17.2.1 Übung: Unterscheidung se passivo und se impessoal
Das Passiv wird im Portugiesischen und Spanischen selten benutzt, weil es hierzu Alternativen gibt. Das se passivo, wenn der aktivische Satz ein Akkusativobjekt haben müsste, wird aber, auch von Muttersprachlern, oft mit dem se impessoal verwechselt, was zu agrammatikalischen Sätzen führt.
Das se passivo erscheint auf den ersten Blick merkwürdig, obwohl es auch im Deutschen existiert. Merkwürdig daran ist, dass die portugiesische Konstruktion zwar auch im Deutschen nicht agrammatikalisch wäre, aber, von Einzelfällen abgesehen, sinnfrei. Akzeptieren würden Deutsche diesen Satz.
Sein Geld hat sich vermehrt.
In diesem Satz wendet das Subjekt des Satzes, sein Geld, die durch das Verb beschriebene Handlung, also vermehren auf sich selbst an. Das Geld vermehrt sich also von alleine. Das erscheint vielen Leuten plausibel. (Ob es tatsächlich plausibel ist, lassen wir jetzt dahingestellt, der Autor hat sich zu dieser Frage mal auf 2800 Seiten geäußert, siehe www.economics-reloaded.de.) Auch ein Satz vom Typ "Die Bücher verkaufen sich gut" wird akzeptiert, obwohl sich die Bücher nicht selbst verkaufen. Der syntaktisch nach demselben Muster gestrickte Satz "Die Äpfel essen sich" wird allerdings nicht akzeptiert und das ist der Unterschied zum Portugiesischen. Im Portugiesischen wäre "Die Äpfel essen sich" ein korrekter Satz.
Inhaltlich entsprechen sowohl der se passivo wie auch der se impessoal dem deutschen Indefinitiva man, das heißt fast immer ist eine Übersetzung mit man besser als eine Übersetzung mit einem deutschen Passiv.
se passivo:
As maçãs se comem.
wörtlich:
Die Äpfel essen sich.
Übersetzung mit man:
Man isst Äpfel.
Übersetzung mit Passiv:
Äpfel werden gegessen.
Sie finden in Grammatiken, dass das se passivo bzw. das se impessoal dem deutschen Passiv entspricht und auch mit diesem zu übersetzen ist. Dass es also zwei semantisch gleichwertige Übersetzungen gibt. Die Aussage ist kritisch. Vergleichen wir diese beiden Sätze.
Die Autos werden repariert.
Man repariert Autos.
Ist über einen Fuhrpark eines Unternehmens eine Hagelschauer niedergegangen mit schneeballgroßen Hagelkörnern, können auch alle Windschutzscheiben zertrümmert sein. Der Geschäftsführer wird dann, so er nicht durch den Schicksalschlag gebrochen ist, sagen: Die Autos werden repariert. Er wird nicht sagen: Man repariert Autos. Das Passiv bezieht sich auf einen konkreten Sachverhalt, bei dem der Urheber im Grunde bekannt, in diesem Fall eben eine Werkstatt, aber irrelevant ist. Das indefinita man wird verwendet, wenn eine Handlung beschrieben wird, die gewohnheitsmäßig von einer unbestimmten Gruppe von Personen durchgeführt wird. Es sei konzediert, dass der Unterschied zwischen einer Konstruktion mit dem Indefinita man und einer Konstruktion mit dem Passiv nicht immer offensichtlich ist, doch dieser Unterschied besteht ganz unstrittig. Im Einzelfall kann die Bedeutung auch völlig unterschiedlich sein.
Befehl <=> Beschreibung einer gewöhnlichen Handlung
1) Das wird so gemacht!
2) Man macht das so.
Bei 1) haben wir einen konkreten Kontext und irgendjemand verlangt mit Nachdruck, dass irgendwas auf eine bestimmte Art und Weise gemacht wird. Bei 2) haben wir lediglich die Feststellung, dass eine bestimmte Handlungsweise üblich ist. Das se impessoal und das se passivo sind in der Regel mit dem Indefinita man zu übertragen und nicht mit einem Passivsatz. Je nach Kontext kann auch ein se passivo mit einem passivischen Satz übersetzt werden, dann bezieht sich der Satz aber auf einen konkreteren Sachverhalt.
Dass derjenige, der die Handlung ausführt, beim se pessoal und beim se passivo abstrakter, allgemeiner und diffuser ist, ergibt sich auch aus der Tatsache, dass beim se impessoal bzw. beim se passivo derjenige, der die Handlung tatsächlich, also nicht nur grammatikalisch, ausführt gar nicht genannt werden kann. Bei einem normalen Passivsatz ist das möglich.
konkreter Kontext <=> abstrakter Kontext
1) Os carros são reparados pelos mecânicos.
2) Reparam-se os carros. ( wer ????)
Bei 1) wird der Ausführende der Handlung genannt, die Mechaniker. Der Passivsatz kann ein mit por eingeleitete Ergänzung haben, in der der Ausführende der Handlung genannt wird. Bei beiden Konstruktionen mit se ist das nicht möglich.
Die Transformationsregel, die wir in allen Grammatiken finden, gilt auch nur dann, wenn es im aktivischen Satz ein Subjekt und ein Objekt gibt. Das Objekt des aktivischen Satz wird zum Subjekt des passivischen Satzes und das Subjekt des aktivischen Satzes wird wird beim passivischen Satz angeschlossen. Das funktioniert identisch im Deutschen und im Portugiesischen.
Transformationsregel
Akkusativ im aktivischen Satz wird Subjekt im passivischen Satz
Aktivischer Satz => os carros ist Akkusativ:
Os mecânicos reparam os carros.
Passivischer Satz => os carros ist Subjekt:
Os carros são reparados pelos mecânicos.
Hat der aktivische Satz jemanden, der die Handlung ausführt, also tatsächlich und nicht nur grammatikalisch, dann kann dieser nicht einfach weggelassen werden. Die Transformation ist nur mit einem Passivsatz möglich. In diesem Fall wurden das Objekt des aktivischen Satzes, os carros, zum Subjekt des passivischen Satzes. (Wer das nicht versteht, sollte sich klar machen, wer im Passivisatz das Verb regiert. Im Singular wäre es "O carro é reparado pelos mecânicos. Das Subjekt regiert das Verb.)
Will man dieselbe Transformationsregel beim se impessoal anwenden, dann muss man von einem Satz ausgehen, bei dem der Ausführende das Indefinita man ist. Dieses ist so unbestimmt, dass es auch entfallen kann.
Tranformation bei sehr abstraktem Subjekt
Man repariert die Autos.
Reparam-se carros.
wörtlich: Autos reparieren sich.
Diese Transformation muss man jetzt im Detail verstehen, andernfalls verwechselt man sie mit dem se impessoal, was dann, nach der engen Definition der Standardgrammatik, siehe unten, zu Fehlern führt. Im aktivischen Satz waren die Autos Akkusativobjekt. Diese werden zum Subjekt des Satzes im se passivo, regieren also das Verb. In diesem Fall steht dieses Subjekt im Plural, so dass auch das Verb im Plural steht. Im Singular wäre es "Repara-se o carro / Se repara o carro" <=> "Man repariert das Auto". Das Subjekt des Satzes wendet die durch das Verb beschriebene Handlung auf sich selber an, se ist also bei dieser Konstruktion, beim se passivo, ein echtes Reflexivpronomen. Das ist zwar inhaltlich meistens Unsinn, aber grammatikalisch korrekt. Da hier die carros Subjekt des Satzes sind, wäre der Satz "Repara-se carros" falsch. Beim se passivo ist das se, grammatikalisch gesehen, ein Reflexivpronomen auch wenn das inhaltlich nonsense ist.
Bedingung für dieses se passivo ist die Existenz eines Akkusativobjektes im aktivischen Satz.
Das se impessoal ist etwas völlig anderes, auch wenn es, auch von Muttersprachlern, mit dem se passivo verwechselt wird. Haben wir ein intransitives Verb, ein Verb also, das kein Akkusativobjekt hat, wie gehen, laufen, schwimmen, tauchen etc. dann ist die Transformation in ein se passivo unmöglich. Wir können in diesem Fall nur mit einem Indefinita konstruieren, dass dem deutschen man entspricht und dieses ist eben ebenfalls se. Beim se impessoal entspricht se schlicht dem deutschen man.
se impessoal bei einem intransitiven Verb
1) In dieser Stadt lebt man gut mit wenig Geld.
2) Nesta cidade se vive bem com pouco dinheiro.
Der Satz 1) hat kein Akkusativobjekt und folglich gibt es nichts, was zum Subjekt werden könnte. Se entspricht hier man und dieses man führt eine Handlung aus, nämlich gut leben. Beim se impessoal steht das Verb immer in der 3.Person Singular.
Im Einzelfall kann ein Akkusativobjekt vorhanden sein und dennoch die korrekte Übersetzung nur mit einem se impessoal erfolgen. Betrachten wir diese beiden Sätze.
Übersetzung mit einem se impessoal bei Zweideutigkeiten
1) Man sah viele Journalisten.
Viu-se muitos reporters
2) Viele Journalisten sahen sich.
Muitos reporters viram-se.
Satz 1 hat ein Akkusativobjekt. Wendet man jetzt aber die Transformationsregel an, dann kommt "Muitos reporters viram-se" raus, was inhaltlich nicht dem Ursprungssatz entspricht. In diesem Fall ist mit "Viu-se muitos reporters" zu übersetzen, da dies inhaltlich dem Ursprungssatz entspricht. Im Spanischen ist das anders. Auch wenn die Transformation zu zweideutigen Sätzen führt, muss die Transformationsregel angewendet werden. Vermutlich sind es solche Fälle, die dazu geführt haben, dass der se impessoal auch in einem Kontext akzeptiert wird, wo eigentlich ein se passivo hingehört.
Es sei noch angemerkt, dass die Regel, die wir in der Schule lernen, dass ein aktivischer Satz nur in einen passivischen Satz transformiert werden kann, wenn dieser ein Akkusativobjekt hat, "Er isst den Apfel" <=> "Der Apfel wird von ihm gegessen", also mit intransitiven Verben kein passivischer Satz gebildet werden kann, falsch ist. Sätze wie "Es wurde viel getanzt und gelacht", "Es wurde zu viel geredet und zu wenig gearbeitet" sind richtig. Es ist hier ein Pseudosubjekt. Es ist nicht das Subjekt, an dem die durch das Verb beschriebene Handlung durchgeführt ist. Richtig an der schulischen Lehrmeinung ist nur, dass das nicht mit jedem x-beliebigen Verb geht.
Des weiteren kennt das Deutsche noch andere Konstruktionen mit passivischem Sinn, Konstruktionen also, bei denen der Ausführende der durch das Verb beschriebenen Handlung nicht genannt wird. Der Satz "Vende-se casa" könnte auch mit "Haus zu verkaufen" übersetzt werden.
Zu guter letzt sei noch angemerkt, dass im Portugiesischen, in krassem Gegensatz zum Spanischen, die Verwendung des se impessoal anstatt eines se passivo, also einer eigentlich agrammatikalischen Konstruktion, von vielen Linguisten akzeptiert wird. Dies ist wohl auch eine Kapitulation vor der normativen Kraft des Faktischen. Manche Grammatiken akzeptieren beide Versionen. Se impessoal steht in der Tabelle unten in Anführungsstrichen, denn streng genommen ist die Konstruktion falsch. So streng sehen das aber viele Leute, auch professionelle Linguisten, nicht. (In deutschsprachigen Grammatiken des Portugiesischen wird die Verwendung eines se impessoal anstatt eines se passivo durchgängig als agrammatikalisch bezeichnet. In Grammatiken, die sich an Portugiesisch Muttersprachler richten, ist das Bild differenzierter.) Möglicherweise neigen Brasilianer dazu, beide Konstruktionen zu akzeptieren, wohingegen Portugiesen auf einer Differenzierung bestehen.
Bei den folgenden Sätzen ist das Problem, dass grammatikalisch richtig interpretiert, das se impessol inhaltlich falsch wäre. Die Verse von Pessoa rezitierten sich nicht, sonderm MAN rezitierte Verse von Pessoa. Diese und andere Probleme haben wohl dann schlussendlich dazu geführt, dass auch die eigentlich agrammatikalische Version des se passivo heute, zumindest in Brasilien, akzeptiert wird.
Wie sehr oft bei grammatikalischen Problemen geht es letztlich um die Frage, wie das Gehirn Sprache verarbeitet bzw. Sprache produziert. Viele Portugiesisch Muttersprachler zerbrechen sich den Kopf über der Frage, ob in einem Satz wie "Trata-se dum problema familiar", "Es handelt sich um ein familiäres Problem" das se ein se impessoal oder ein se passivo ist.
Die Antwort ist schlicht: Keins von beiden. Es ist, im Deutschen und im Portugiesischen, ein feststehender Ausdruck, der semantisch einen ganz anderen Wert hat, wie das se impessoal bzw. das se passivo. Bei se impessoal bzw. se passivo gibt es, auch wenn dieser aus welchen Gründen auch immer nicht genannt wird, einen Ausführenden. Hier ist schon der Infinitiv reflexiv, im Deutschen wie im Portugiesischen: tratar-se <=> sich handeln.
Hier steht es für einen Sinnzusammenhang. Wenn bei Nachbars die Fetzen fliegen, dann ist das ein familiäres Problem. Dieser Streit ist aber nicht der Ausführende der durch das Verb beschriebenen Handlung, weshalb es kein se passivo sein kann und auch kein Indefinita, weswegen es auch kein si impessoal sein kann. Das es, also der familiäre Streit, handelt.
Es ist zwar Subjekt des Satzes und regiert das Verb, aber es handelt nicht und erst recht führt es die durch das Verb beschriebene Handlung nicht an sich selber aus.
Von Sprachwissenschaftler wird oft behauptet, dass das se impessoal bzw. das se passivo, seit dem 13. Jahrhundert in den romanischen Sprachen auftaucht. Daran glaubt der Autor nicht. Die Konstruktion gibt es auch im Deutschen und Deutsch ist keine romanische Sprache. Des weiteren setzt sich keine grammatikalische Konstruktion durch, die nicht von vorneherein in der Art, wie das menschliche Gehirn Sprache verarbeitet, angelegt ist und ein unbekanntes, nicht existierendes, diffuses, irrelevantes Subjekt mit einer Reflexivkonstruktion zu beschreiben, scheint im menschlichen Gehirn angelegt zu sein. Wir haben das nämlich auch im Deutschen. Das ist keine autochthone romanische Erfindung.
Grammatik ist immer eine Oberflächenanalyse. Beschreibt das Resultat von etwas, aber nicht die Kräfte, die das Resultat hervorgebracht haben, was eigentlich der spannendere Teil ist. Die akademische Linguistik befasst sich ausschließlich mit diesem Oberflächenphänomen. Anders formuliert, die ganze akademische Linguistik ist eine Horde von Vollidioten. Es macht keinen Sinn, das Resultat von Kräften zu analysieren. Nicht das Resultat ist interessant, sondern die Kräfte, die dieses Resultat hervorgebracht haben. Ein Physiker studiert auch nicht, wie Millionen von Objekten auf die Erde fallen, wenn man sie aus dem Flugzeug wirft. Ihn interessiert die Kraft, die die Gegenstände fallen lässt.
Entscheiden Sie in den folgenden Sätzen, ob es sich um ein se impessoal oder um ein se passivo handelt. (Im brasilianischen Portugiesisch kann se, in beiden Fällen, beim se passivo und beim se impessoal, vor dem Verb stehen oder, mit Bindestrich, nachgestellt werden. Wir verwenden in den Beispielen willkürlich beide Formen. In den Beispielen wird jetzt so getan, als ob es eine klare Unterscheidung zwischen se pessoal und se passivo gibt. )