1. Schwierigkeitsgrad

Dieses Portal dient vor allem der Vermittlung der portugiesischen Sprache. Wie dem unvoreingenommenen Betrachter sofort ersichtlich, geht es hierbei eben auch um hören, wobei das Gehörte dann auch noch irgendwie verstanden werden soll, und sprechen. Statistisch gesehen dürfte hierbei hören dominieren, weil man z.B. beim Fernsehen, Radio, Vorträge etc. eher lauscht als spricht. Schreiben und lesen ist dann nachgeordnet. Das Hörverständnis kann man auf Tausend verschiedene Arten trainieren, z.B. über Videos bei youtube oder eben, wie hier, indem man sich ein Buch vorlesen lässt. Dann stellt sich nur noch die Frage, welches Buch. Die Meinungen hierzu und die Angebote am Markt sind hier breit gestreut. Es reicht von Geschichten, die speziell für Lernende geschrieben worden sind, also mit reduziertem Wortschatz und vereinfachter Grammatik, über vereinfachte Versionen von Romanen, die für den entsprechenden Kulturkreis bedeutsam sind, bis zur Vertonung von Originalwerken.

Die erste Variante hat dem Autor noch nie so richtig eingeleuchtet. Wenn man schon eine Sprache lernt, dann sollte man auch etwas über den Kulturkreis erfahren wollen. Die zweite Variante ist einleuchtend, setzt aber voraus, dass man den kompletten Roman neu schreibt. Bei anderen Sprachen haben wir das gemacht und wenn wir Zeit und Muße haben, machen wir das auch mit Portugiesisch. Die Dritte Variante ist dann, schlicht das Originalwerk zu vertonen. Dieses Verfahren hat dann in der Regel einen Nachteil. Die Texte wurden für Muttersprachler geschrieben und sind von daher tendenziell schwierig. Was den Roman O Cortiço angeht, ist er sogar sehr, sehr schwierig, lexikalisch und grammatikalisch. Die lexikalischen Probleme sind zahlreich. Viele Wörter werden in einer kaum bekannten Nebenbedeutung benutzt bzw. haben eine Bedeutung, die sie heute gar nicht mehr haben, viele Begriffe beziehen sich auf die brasilianische Flora und Fauna, bzw. auf Sitten und Gebräuche Brasiliens im 19 Jahrhundert, teilweise sind sie umgangssprachlich, bzw. spiegeln den Sprachgebrauch bestimmter Bevölkerungsschichten wieder, viele Redewendungen werden heute gar nicht mehr benutzt.

Grammatikalisch fällt vor allem die Verwendung des pretérito-mais-que-perfeito simples auf, der heute gar nicht mehr verwendet werden und im Grammatikteil nur kurz erwähnt wird. Erwähnenswert ist noch, bevor jemand lange darüber nachgrübelt, a + infinitivo wird oft anstatt des gerundio verwendet und zwar nicht nur, wie in der Grammatik beschrieben, wenn er zusammen mit estar verwendet wird. (Wobei im selben Satz beide Formen vorkommen können!) Wer die Grammatik durchgearbeitet hat, müsste aber den Text einigermaßen, unter zur Hilfenahme der Übersetzung, verstehen, bzw. die grammatikalische Konstruktion weitgehend nachvollziehen können. Die Übersetzung ist nicht auf Schönheit getrimmt. Soweit möglich wurde versucht möglichst nah am Original zu übersetzen. Der Autor dieser Zeilen ist ganz ernsthaft der Meinung, dass die Reflexion über konkrete grammatikalische Konstruktionen, die irgendwo auftauchen, mehr bringt, als die in der Schule usw. so beliebten Kästchenübungen. Hat man eine grammatikalische Konstruktion mal aufgelöst und taucht diese in einem Roman dann noch ein paar Hundert Mal auf, dann passt das und sie bleibt für immer abgespeichert. Das ist auf jeden Fall amüsanter, findet der Autor, als Kästchen auszufüllen.

Der Roman wurde EXTREM langsam eingelesen, im Grunde so, dass jedes Wort einzeln eingesprochen wurde. Man hat also die Möglichkeit, zu hören und den Text Wort für Wort dabei zu verfolgen. Da Portugiesisch eine extrem hörerunfreundliche Sprache ist, das europäische Portugiesisch noch stärker als das brasilianische, erscheint diese Vorgehensweise sinnvoll. Das für das Portugiesische so typische Verbinden von Wörtern passiert erst in den hinteren Kapiteln. Das letzte Kapitel wird in normaler Sprechgeschwindigkeit eingesprochen. Wer das Kapitel über die Aussprache durchgelesen hat, sollte dann die Regeln beherrschen, wenn er sich den Roman angehört hat.

Wie bereits gesagt, hätte man auch andere Romane einlesen können, dieser allerdings ist für den brasilianischen Kulturkreis besonders bedeutend, weswegen wir jetzt noch ein paar Takte dazu sagen.

2. Bedeutung des Romans

Wer bei youtube O Cortiço eingibt, bekommt über 23 000 Treffer. (Bei google über 800 000.) Da erklären dann Schüler, Lehrer, Uni-Dozenten und sonstige Literaturbegeisterte um was es sich bei dem Buch handelt. Das ist schlicht der Tatsache geschuldet, dass der Roman Bestandteil des Lehrplanes an Schulen ist. Mit derselben Sicherheit, mit der man davon ausgehen kann, dass deutsche Schüler Goethes Faust lesen werden an der Schule, italienische Schüler die Divina Commedia, französische Schüler ein Werk von Molière, englische Schüler ein Werk von Shakespeare und spanische Schüler den Don Quijote kann man davon ausgehen, dass Brasilianer O Cortiço kennen, weil sie das nämlich in der Schule gemacht haben. Ob O Cortiço mit seinen teils sehr drastischen Darstellungen der Wirklichkeit und seinem zutiefst pessimistischen Menschenbild eine geeignete Schullektüre ist, vermag der Autor dieser Zeilen nicht zu sagen, aber so ganz konservativ würde er sich auf den Standpunkt stellen, dass man Jugendlichen / jungen Erwachsenen eine Vorstellung möglichen Gelingens geben sollte und der Versuch, sie von der Unausweichlichkeit des Scheiterns zu überzeugen nur wenig zielführend ist. Wenn dem so ist, dann lernen sie das noch früh genug und wenn dem nicht so ist, dann braucht man es auch nicht lernen. Das sieht der Autor dieser Zeilen ganz pragmatisch.

Man könnte einwenden, dass der naturalistische Roman, siehe unten, dem Leser, also in der Schule den Schülern, den Spiegel vorhält, was diesen dann veranlasst, bestimmte Verhaltensweisen zu unterlassen und auf den Pfad der Tugend zurückkehrt, welcher immer das sein mag. Der Autor bezweifelt nur, dass das gelingen kann. Der Roman ist allerdings komplex und lässt sich nicht auf eine einfache Formel reduzieren. Bestimmte Verhaltensmuster wird der Leser wieder erkennen, wobei der Roman sie lediglich beschreibt, aber nicht erklärt, wobei sie letztlich auch nicht erklärbar sind. Welche Ziele eine Gesellschaft verfolgt, hängt davon ab, welche Ziele sie konkret als bereichernd empfindet, was wiederum davon abhängt, welche Ziele sie als bereichernd empfinden kann, subjektiv und objektiv, schon konkret erlebt hat und für realistisch hält. Allerdings hat der Autor dieser Zeilen nicht den Eindruck, wie man oft liest, dass uns Azevedo hier "Klassen" vorführt, bzw., was ja das Ziel des Naturalismus sein soll, weniger der individuelle Typus, sondern das Modell im Vordergrund steht.

Da das Werk Schullektüre ist, liefert einem google mit den Begriffen O Cortiço interpretação 109 000 Treffer. (Was natürlich wenig ist, im Vergleich zu den über 4 Millionen Treffern, die man mit Faust Interpretation erhält. Über 2 Millionen erhält man mit Don Quijote interpretación. ) Die Interpretationen fokusieren meist auf einen Aspekt, mal ist O Cortiço das bedeutendste Beispiel für den Naturalismus, mal eine Fundamentalkritik am Kapitalismus, mal soll der Roman die Verderbtheit der Gesellschaft beschreiben, mal brave Portugiesen beschreiben, die langsam "brasililanisiert" werden, mal der perfekte Einstieg sein in die Lebenswirklichkeit des imperialen Brasiliens unter Pedro II.

Der Autor wiederum hält die grundsätzlichen Annahmen des Naturalismus für falsch, der im übrigen keine literarische Strömung ist, sondern ein Menschenbild, der Begriff "Kapitalismus" ist von vorneherein Blödsinn, dass da jemand "brasilianisiert" wird, glaubt der Autor ebenfalls nicht, bzw. das Phänomen ist globaler und wenn der Autor sich über die Lebenswirklichkeit im imperialen Brasilien im 19. Jahrhundert informieren will, nimmt er einen anderen Typ von Buch in die Hand. Der langen Rede kurzer Sinn: Das Teil ist ziemlich komplex. Man muss es nicht mögen, aber komplex ist es. Warum der Autor dieser Zeilen nicht so richtig begeistert ist, ist schnell erklärt. Dem Roman fehlt ganz definitiv eine positive Vision des Gelingens. (Und in der Art, wie es geschrieben ist, zieht es den Leser etwas in die pessimistische Grundströmung hinein.)

Der Roman liefert ein ziemlich buntes Bild einer Gesellschaft, nicht nur der brasilianischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Teilweise thematisiert er soziale / wirtschaftliche Konflikte und Ausbeutung, teilweise beschreibt er eine Gruppendynamik, teilweise persönliche Konflikte, teilweise die Abwesenheit von erfüllenden Zielen, teilweise problematisiert er, dass die handelnden Akteure lediglich auf Anreize des Systems reagieren. Er ist sozusagen so verwirrend, komplex, widersprüchlich wie die wahre tobende Wirklichkeit höchstselbst und stellt auch dieselben fundamentalen Fragen.

3. Naturalismus

Verachte nur Vernunft und Wissenschaft,
Des Menschen allerhöchste Kraft,
Laß nur in Blend- und Zauberwerken
Dich von dem Lügengeist bestärken,
So hab ich dich schon unbedingt
Goethe, Faust

O Cortiço gilt als bedeutendstes Werk des brasilianischen Naturalismus. Was der Naturalismus ist, ist schnell erklärt. Im Naturalismus haben die handelnden Personen in etwa den Spielraum, den das Getier in der Botanik hat und zahlreich, auch in O Cortiço, sind die dem Tierreich entnommenen Bilder, mit denen menschliches Verhalten beschrieben werden. Der Cortiço, die Mietskaserne, wird verglichen mit einem Ameisenhaufen, wo alles hin- und her wuselt, Männer verlieren etwas die Kontrolle, wie der Hirsch in der Brunftzeit, das Leben pulluliert, sinnfrei, aber unausrottbar etc. etc..

Der Naturalismus ist eher durch das zu beschreiben, was er nicht ist. Wir haben keine Individuen, die unerwartet handeln, wir haben keine Überschreitung der Realität, keine Vorstellung von Gelingen, die über das bekannte darwinsche survival of the fittest hinausgeht und der Mensch hat keine Möglichkeit, die Welt bewusst und rational zu planen. Gelingen bedeutet also lediglich, überleben, wobei unklar bleibt, wozu. Der Naturalismus gibt sich wissenschaftlich, die These ist, dass, marxistisch gesprochen, das Sein das Bewusstsein bestimmt und, das ist dann der darwinistische Teil, die Individuen sich best möglich an gegebene Umstände anpassen. Das Verhalten der handelnden Akteure ist also vollständig durch das Umfeld determiniert. Von diesem sind sie geprägt und an dieses passen sie sich an. Das ist natürlich, wie unschwer zu erkennen, vollkommener Blödsinn. Es ist in der Tat so, dass sich in der darwinschen Evolutionstheorie aufgrund von Anpassungen an die gegebenen Umstände neue Arten bilden. Der Mensch allerdings passt sich nicht immer an die äußeren Umstände an, er prägt diese und genauso wie das Sein das Bewusstsein bestimmt, bestimmt das Bewusstsein das Sein. Wirkmächtige Ideen, deren Zeit gekommen ist, verändern die Welt. Die Galapagos Inseln, der Mikrokosmos, der Darwin zur Illustrierung seiner Vorstellungen diente, haben sich nicht verändert, aber alles was da kreucht und fleucht hat sich seine Nische gesucht. Hätte man die Galapagos Inseln aber nicht zum Naturschutzgebiet erklärt, hätte der Mensch die Galapagos Inseln seinen Bedürfnissen angepasst und nicht umgekehrt. Der Naturalismus ist also im eigentlichen Sinne gar keine literarische Strömung, sondern ein Menschenbild und zwar ganz offensichtlich ein falsches.

Der Naturalismus, so die Theorie, soll die Wirklichkeit so exakt beschreiben wie der Marxismus den Gang der Geschichte und der Darwinismus den Gang der Evolution. Zu ersterem hat der Autor dieser Zeilen mal eine fette Website produziert, www.economics-reloaded.de, die Quintessenz ist, kurz zusammengefasst, dass der Marxismus reiner Blödsinn ist. Der Darwinismus, also die Vorstellung, dass die Diversifizierung der Arten ein Resultat der Anpassung ist, trifft für die Flora und Fauna zu. Für menschliche Gesellschaften trifft das nicht zu, denn diese tendieren eher dazu, ihr Umfeld an ihre Bedürfnisse anzupassen. Unglückliche Philosophen wie Herbert Spencer haben dann das survival of the fittest auf die menschliche Gesellschaft, insbesondere den Bereich der Wirtschaft, übertragen, aber dann wird es leider schwachsinnig. Der Wettbewerb, der, so die Vorstellung der Anhänger des survival of the fittest, die Schwachen eliminiert, ist ein hochgradig KÜNSTLICHES Gebilde, der eine wirtschaftlich sinnvolle Funktion erfüllt. Der Wettbewerb sorgt dafür, dass mehrere Alternativen zur Lösung eines Problems miteinander konkurrieren und sich die beste am Markt durchsetzt. Davon profitieren alle. Wo kein Wettbewerb herrscht, also z.B. da, wo die Leistung durch staatliche Regelungen reglementiert ist, habe wir keine Alternativen und niemand weiß, wieviel Geld wir mit alternativen Lösungen einsparen könnten, weil es gar keine alternativen Lösungen gibt. Wir machen hier aber keine Einführung in die Wirtschaftswissenschaften und klären das auch nicht im Detail. Wer sich dafür interessiert, kann das hier kurz und kompakt nachlesen: Ökonomen und ihre Theorien. (Yep: Der Autor des Buches ist derselbe wie Verfasser dieser Zeilen. Ende der Werbeeinblendung.)

Der Naturalismus ist nicht die einzige literarische Strömung, die die Welt präzise beschreiben will. Wir haben noch Bertolt Brecht im Angebot. Der will die Welt nicht nur beschreiben, sondern auch gleich noch erklären. Wer das glaubt, der glaubt auch, dass sich der Keynesianismus in Romanform darstellen lässt, allerdings hat derjenige, der das glaubt einen Dachschaden.

Literarische Werke sind immer eine subjektive Sicht auf die Dinge. Diese subjektive Sicht kann die Realität überschreiten, sie kann sie verdichten, sie kann eine eigene Realität schaffen, sie kann den Blickwinkel auf die Realität verändern, sie kann für bestimmte Phänomene sensibilisieren, sie kann das Unsagbare sagen, sie kann den Leser auf eine weite Reise schicken und wahrscheinlich noch viel mehr. Die präzise Beschreibung der Realität allerdings ist sie nie. Schon die berühmte Frage "was will uns der Dichter mit seinem Werk sagen" ist blanker Unsinn. Wenn er uns was SAGEN will, dann soll er das in Gottes Namen tun. In schlichter Prosa angereichert mit empirisch belastbaren Daten.

O Cortiço ist also mit Sicherheit keine umfassende Darstellung der Realität Brasiliens im 19. Jahrhundert. Das ergibt sich schon aus der simplen Tatsache, dass der Roman als eines der bedeutendsten Werke der brasilianischen Literatur gilt, was kaum der Fall wäre, wenn die Gestalten, die in O Cortiço auftreten, typische Vertreter der brasilianischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert gewesen wären, denn die Gestalten, die da auftreten, lesen schlicht gar keine Romane und wären insbesondere nicht auf die Idee gekommen, sich dort geschildert zu finden. Der Roman war schon zur Zeit seiner Veröffentlichung populär und der Autor bezweifelt, dass er das gewesen wäre, wenn sich die brasilianische Gesellschaft in ihrer Gesamtheit in diesem Roman gespiegelt gesehen hätte. Niemand gibt Geld aus, nur um beleidigt zu werden.

Nichtsdestotrotz deckt sich ein zentrales Thema des Romans, das Schicksal der Sklavin Bertoleza, mit den historischen Fakten und auch wenn die Romanfiguren teilweise etwas holzschnittartig geraten sind, werden die meisten Leser, überall auf der Welt, solche unangenehme Zeitgenossen kennen. Der Roman beschreibt EINE Realität, die den meisten Lesern intuitiv plausibel erscheint und die wir überall finden. Insofern ist der Roman zeitlos. Er beschreibt aber nicht den sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Zustand Brasiliens im 19. Jahrhundert und wer darüber hinaus in dem Roman auch noch die Darstellung irgendwelcher sozialen, psychologischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Theorien sehen will, die den Gang der Menschheitsgeschichte prognostizieren wollen, der schießt endgültig über das Ziel hinaus. Selbst wenn dies die Intention von Aluísio Azevedo gewesen wäre, was wir nicht wissen, denn die Faktenlage ist, was biographische Daten angeht, eher dünn, so sperrt sich der Roman gegen solche simplen Schemata. Alle Figuren hätten einen Handlungsspielraum gehabt, waren nicht lediglich Blätter, die vom Wind weltgeschichtlicher Tendenzen durch die Luft gewirbelt wurden und alle entstammen zwar dem gleichen Milieu, dem Cortiço, haben aber ganz unterschiedliche und höchst individuelle Motive diesen zu verlassen, bzw. dort zu bleiben und scheitern auch aus höchst unterschiedlichen Gründen. Reduziert man den Roman auf die Illustrierung einer Theorie, wird man dessen Komplexität nicht gerecht.

4. Geschichtlicher Hintergrund und Sklaverei

Ein Thema des Romans ist die Sklaverei und diese bildet auch die Klammer des Buches. Zu Beginn erwirkt João Romão einen Freibrief für Bertoleza, der allerdings ein Fake ist, wodurch er sich am Schluss des Romans von Bertoleza lösen kann, indem er sie wieder in die Sklaverei schickt. Aluísio Azevedo lebte von 1857 bis 1913. Der Roman O Cortiço erschien 1890. Die endgültige Abschaffung der Sklaverei dauerte von 1850 bis 1888. (1850 wurde der Handel mit Sklaven verboten, 1871 wurden die Kinder von Sklavinnen frei und 1888 wurde die Sklaverei komplett abgeschafft. ) Der Roman erschien also zwei Jahre nach der endgültigen Abschaffung der Sklaverei.

Der Prozess der Abschaffung der Sklaverei fand also zur Lebenszeit von Aluísio Azevedo statt, der ein Gegner der Sklaverei war. Die Situation Bertolezas scheint für Brasilien typisch gewesen zu sein, bzw. eine Form von Sklaverei zu sein, die es nur in Brasilien gab. Bertoleza ist der einzige "Besitz" eines verarmten und blinden Mannes und im Grunde ist dieser von ihrer Arbeitsleistung abhängig. Sie arbeitet nicht direkt für ihn, also als persönliche Dienstleistung, sondern ist selbstständig tätig und gibt einen Teil des Gewinns an ihn ab, wobei aber im Roman gar nicht klar wird, wie er überhaupt kontrollieren kann, wie viel sie verdient und welcher Anteil ihm zukommt. Anders formuliert: Die im Roman beschriebene Konstellation erscheint zwar nicht besonders realistisch, hat aber insofern einen wahren Kern, als auch arme Bevölkerungsschichten durch ihre "Sklaven" Einkommen erzielten, indem sie diese "verliehen". Unstrittig ist, dass die Lebensumstände der Sklaven in den Jahrhunderten vorher bzw. auf den Kaffee- / Zuckerrohrplantagen, Minen etc. auch noch zur Zeit von Azevedo grauenhaft waren. Diese Art von Sklaverei taucht aber im Roman nur indirekt auf.

Es ist kaum anzunehmen, dass das Schicksal Bertolezas, fiktiver Freibrief und anschließende Wiederversklavung, typisch ist. Es handelt sich hier eher um ein dramaturgisches Element. Wie bei allen anderen großen Verbrechen der Menschheit, Holocaust, Auslöschung der Indianer in Nordamerika, Diktaturen aller Art, Ermordung von 10 Millionen Kongolesen im Kongo in den Jahren 1888 bis 1908 etc. spielen sowohl bei der Enstehung solcher Entwicklungen, wie auch bei den Prozessen, die sie letztlich stoppten, ökonomische, soziale, kulturelle und politische Verhältnisse eine Rolle, die in ihrer Komplexität kaum in einem Roman darstellbar sind. Die Sklaverei z.B. begünstigte, im vorindustriellen Zeitalter, die Landbesitzer, weil vor allem diese Schicht davon profitierte, dass der Faktor Arbeit kostenlos zu haben war und mit der ökonomischen Dominanz, gewann diese Schicht auch eine unverhältnismäßig große politische Macht. Vermutlich führten ähnliche Entwicklungen, wie wir sie schon von der französischen Revolution bzw. dem amerikanischen Bürgerkrieg kennen, letztlich zur Abschaffung der Sklaverei. Da im Zuge der Industrialisierung immer größere Gesellschaftsschichten an der Aufrechterhaltung der Sklaverei schlicht kein Interesse mehr hatten, wurde sie letztlich abgeschafft. Anzunehmen ist, dass auch die Einwanderer kein Interesse an der Sklaverei hatten, da diese das Lohnniveau praktisch auf Null absenkte. Ein Problem, das im Roman angedeutet wird. Jerônimo findet zuerst nur eine sehr schlecht bezahlte Stelle auf einem Landgut.

Genaue Zahlen hat der Autor nicht gefunden. Für den hier relevanten Zeitraum, 1850 bis 1882, gibt es eine Volkszählung von 1872. Nach dieser hatte Brasilien zu diesem Zeitpunkt etwa 10 Millionen Einwohner, wovon 1,5 Millionen Sklaven waren. In derselben Volkszählung wurde auch die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe erfasst. Hiernach bezeichneten sich 58 Prozent als schwarz oder farbig, 38 Prozent als weiß. (Die verbleibenden 4 Prozent gehören zu den autochthonen Völkern.) Als Sklaven kommen ja nur dieses 58 Prozent, also 5,8 Millionen, in Frage. Das heißt von den 5,8 Millionen Schwarzen und Farbigen waren 1,5 Millionen Sklaven und 4,3 Millionen frei. Diese 4,3 Millionen sind dann offensichtlich aus einer Verbindung zwischen einem Weißen, vermutlich zu fast 100 Prozent Männer und einer Frau mit einer anderen Hautfarbe hervorgegangen und dem Vater blieb wohl, so er denn nicht pervers veranlagt war, nichts anderes übrig, als sein Kind in die Freiheit zu entlassen. Den 3,8 Millionen Weißen stehen also 4,3 Millionen Abstämmige von Sklavinnen gegenüber. Dass diese 4,3 Millionen Abstämmige von Sklavinnen besonders viel Sympathie für die Sklaverei hatten ist kaum zu vermuten. Man kann also davon ausgehen, dass das System der Sklaverei wirtschaftlich, sozial und kulturell jeden Rückhalt verloren hatte. Die Lei Áurea von 1888 hat also nur etwas abgeschafft, was de facto schon abgeschafft war, auch wenn die Gesetze noch an Verhältnisse zu zementieren suchten, die der Lebenswirklichkeit immer weniger entsprochen haben, zumal die soziale Lage, wie in O Cortiço beschrieben, für alle ähnlich war. Auch die Immigranten, im Roman genannt die Italiener, lebten unter denselben schwierigen Bedingungen wie die Kreolen.

Zumindest in der zugespitzten romanhaften Darstellung identifizieren sich die Kreolen, z.B. Rita Baiana, mehr mit der afrikanisch / brasilianischen Kultur als mit der europäischen, die im Roman auch als Identifikationsmerkmal und Statussymbol einer sozialen Schicht dient, während die afrikanisch / brasilianische Kultur als authentisch beschrieben wird. João Romão blamiert sich durch die Unkenntnis dieser europäischen Kultur im Umgang mit der Familie Miranda, wohingegen Jerônimo unter anderem von der sinnlichen Wucht der brasilianisch / afrikanischen Kultur erschüttert wird. Wir haben also auf der einen Seite Kultur als Statussymbol und auf der anderen Seite eine authentische Kultur, die um ihrer selbst willen bedeutsam ist.

Der Konflikt an sich ist aber nichts spezifisch brasilianisches. In jedem Kulturkreis gibt es einen Kanon, dessen Kenntnis der Gruppenbildung dient, ohne dass dies notwendigerweise bedeutet, dass dieser Kanon den Gruppenmitgliedern etwas bedeutet, sie also auch daran festhalten würden, wenn er nicht mehr als Statussymbol fungieren würde und es gibt neue kulturelle Strömungen, die enger mit dem emotionalen Zustand verknüpft sind und sich von daher durchsetzen, auch wenn sie als Statussysmbol ungeeignet sind, wobei im Roman die Pointe eigentlich eine andere ist. Die Stärke von Miranda und João Romão besteht eben darin, dass sie schlicht überhaupt keine kulturellen Interessen haben und Kultur lediglich den sozialen Status signalisiert, wobei primär natürlich Vermögen zählt. Die Stärke von Miranda und João Romão besteht eben darin, völlig unempfindlich gegen alles außer Geldverdienen zu sein. Damit sind sie wesentlich fokusierter als Jerônimo.

Jerônimo allerdings wird von der brasilianisch / afrikanischen Kultur so erfasst, dass er das, ökonomisch gesehen rationalere Ziel aufgibt, bzw. von diesem weggetrieben wird. Der beschriebene Konflikt ist uralt. Wir finden ihn schon in der Odysee von Homer. Hätte sich Odysseus nicht an den Schiffsmast binden lassen, dann wäre er von seiner Sinnlichkeit übermannt worden und gestorben. "Gefühle" sind zwar letztlich, das, was das Leben lebenswert macht, zumindest die positiven, stehen aber der Lebenserhaltung im Weg. Im Roman sind die Idioten, also Miranda und João Romão, beide für Kultur unempfänglich und lediglich am sozialen Aufstieg interessiert, erfolgreich, während die, die Authentizität suchen, z.B. Jerônimo und Pombinha, scheitern oder zumindest einen problematischen Weg gehen, das heißt ihr Weg beträchtliche Kollateralschäden hat. Das Problem ist alt und schon von Goethe benannt: Die ihr das Leben gabt, ihr himmlischen Gefühle / erstickt, in diesem irdischen Gewühle.

Die Sklaverei war insgesamt zu dieser Zeit, also ab 1870 kein attraktives Geschäftsmodell mehr. Auf der einen Seite gab es en masse Land, dass unter Pedro II zu massiven Anwerbung von Emigranten aus Deutschland, Italien, Polen und der Schweiz führte, auf der anderen Seite zu wenig Leute, die dieses bewirtschaften konnten. Die neuen Emigranten hatten an der Sklaverei kein Interesse. Auf der einen Seite waren sie selber auf der Suche nach Arbeit und die Sklaven waren hier eine Konkurrenz, auf der anderen Seite hatten sie keine und mussten folglich mit Landgütern konkurrieren, die auf Sklavenarbeit beruhten. Im Übrigen führte die zunehmenden Industrialisierung zu einem Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften. Um diesen Bedarf mit Sklaven zu decken, hätte man die Sklaven ausbilden müssen, was aber wiederum mit dem Status des Sklaven unvereinbar war. Vermutlich hat weniger die Vernunft die Sklaverei abgeschafft, als wirtschaftliche Zwänge. Das wiederum beweist, das der ganze marxistische Hokuspokus Dünnsinn ist. Billige Arbeitskräfte braucht man wirklich nur auf einem sehr primitiven Stand der wirtschaftlichen Entwicklung. Wenn es kompliziert wird, und das wird es zwangläufig, braucht man vor allem qualifizierte Arbeitskräfte und das setzt erhebliche Investitionen in die Qualifizierung voraus. Ab dem Moment steckt das Kapital aber nicht mehr im Geldbeutel, sondern in den Köpfen und die haben nun mal zwei Beine.

5. Kapitalismus

João Romão wird im Roman oft als o capitalista bezeichnet, der Roman oft verstanden als Kritik am "kapitalistischen" System. Das ist objektiv Schwachsinn. Der Begriff Kapitalismus meint eine Geschichtsentwicklung, deren treibende Kraft das Kapital ist. Schaut man sich allerdings an, wie Karl Marx in 'Das Kapital' Kapital letztlich definiert, dann ist es, wie bei allen klassischen Nationalökonomen, schlicht Geld. Arbeit gerinnt zu Geld und dieses Geld reinvestiert der "Kapitalist". Das Problem ist, dass die Menge des zur Verfügung stehenden Geldes schlicht von der jeweiligen Zentralbank abhängt. Diese kann in einer Nacht mehr Geld drucken, als alle Kapitalisten dieser Welt den Proletarier in einem ganzen Jahr abpressen können. Wie viel sie davon produziert, hängt ab vom Produktionspotential der Wirtschaft. Geld ist ein Anspruch auf einen Teil des Produktionspotentials und hat mit der Produktion der Vergangenheit schlicht gar nichts zu tun. Kann sich der Kapitalist in der ZUKUNFT die Maschinen, die er kaufen will, tatsächlich kaufen, weil die Ressourcen zu deren Produktion zu Verfügung stehen, ist alles in Ordnung. Ob er das allerdings mit Geld macht, dass er den Proletariern abgepresst hat oder mit einem Bankkredit, der letztlich von der Zentralbank zur Verfügung gestellt wird, ist völlig egal. Das werden jetzt viele Leute nicht verstehen, von daher wird auf das oben genannten Buch verwiesen.

Richtig ist lediglich, dass João Romão, wie auch Miranda, auf einen Kapitalstock aufbauen konnten. Der eine, weil er zu Beginn äußerst sparsam gelebt und Geld angespart hat und der andere, weil seine Frau Kapital in die Ehe einbrachte, das den Grundstock seines Unternehmens bildete. In primitiven Wirtschaften, die sich lediglich quantitativ entwickeln, aber keine qualitativen Sprünge haben, wie die Wirtschaft Brasiliens zu diesem Zeitraum, ist ein Startvermögen tatsächlich hilfreich, vor allem wenn die Zentralbank, was oft passiert, eine restriktive Geldpolitik betreibt. Schwieriger wird es dann, wenn die Wirtschaft wächst aufgrund qualitativer Sprünge. In diesem Fall verschiebt sich die Bedeutung weg vom Kapital und hin zu human capital, also qualifizierter Arbeit. Im Roman z.B. ist der einzige, der in der Position ist, mit João Romão zu verhandeln Jerônimo, der der einzige ist, der den Steinbruch von João Romão optimal ausbeuten kann.

Unstrittig ist, dass es in jedem System gering Qualifizierte gibt und in der Mietskaserne leben ausschließlich gering Qualifizierte, Straßenhändler, Wäscherinnen, einfache Arbeiter, die aber, ganz im Gegensatz zur Theorie des Naturalismus, höchst unterschiedlich sind. Piedade und Rita gehören derselben "Klasse" an, sind aber höchst unterschiedlich und bewältigen die Widrigkeiten des Lebens auch auf andere Art und Weise und mit unterschiedlichem Erfolg. Entgegen dem, was man überall liest, begeht Azevedo eben gerade nicht den Fehler, allem und jedem eine abstrakte Theorie überzustülpen.

Entscheidend für den wirtschaftlichen Erfolg von João Romão ist auch weniger die Tatsache, dass ihm mit Bertoleza eine sehr billige Arbeitskraft zur Verfügung steht. Die Ausbeutung einer Arbeitskraft allein hätte es im kaum erlaubt, ein Gebäude mit 400 Wohneinheiten hochzuziehen. Entscheidend ist die schier unendliche Nachfrage nach billigem Wohnraum, billiger Nahrung und Gegenständen des täglichen Bedarfs sowie seine Betrügereien.

Das "Proletariat", im Roman vertreten durch die Bewohner der beiden Mietskasernen, wenn man es denn so bezeichnet will, scheitert auch nicht an den "kapitalistischen" Verhältnissen. Es scheitert an seiner Neigung zur Gewalt und seiner verlotternden Moral.

6. "Brasilianisierung"

Im Roman öfter angeschnitten, vor allem illustriert durch Jerônimo, wird die "Brasilianisierung", die dann, so die Deutung der Sekundärliteratur, ein Aspekt des Romans ist. Der an sich grundsolide und langweilige Jerônimo wird durch eine Welle an Sinnlichkeit, Gefühle, die ihn übermannen, berauscht, so dass er letztlich aus seinem bürgerlichen Leben hinausgetrieben wird. Das kommt zwar in den besten Familien vor, aber unklar ist, was dabei brasilianisch sein soll. Dass jemand aus einem "bürgerlichen" Leben ausbricht und jenseits der Konventionen was auch immer sucht, ist ein Alltagsphänomen. Ob man hierbei gleich einen so gewaltigen Kollateralschaden wie Jerônimo produzieren muss, steht auf einem anderen Blatt, obwohl auch das überall auf der Welt täglich passiert. Dass in dem Roman ausgerechnet die zwei waschechten Portugiesen, João Romão und Miranda, wirtschaftlich und sozial aufsteigen, sagt hierbei wenig und insbesondere hätte jeder Wirtschaftswissenschaftler Probleme damit, das Wachstum einer Volkswirtschaft psychologisch zu erklären. Eine psychologische Erklärung des Wirtschaftswachstums gibt es nicht, wenn wir mal von Joseph Schumpeter absehen, siehe das oben genannte Buch, und insbesondere stünde dies im Widerspruch, zu einer "marxistischen" Erklärung des Wirtschaftswachstums. Also wenn manche Interpreten das Werk "marxistisch" deuten, was ja auch schon Blödsinn wäre, dann passt das mit der "Brasilianisierung" nicht, was allerdings genauso unsinnig ist. Man kann nicht gleichzeitig Wirtschaftswachstum mit der "Kapitalakkumulation" erklären und mit der psychischen Konstitution der Bevölkerung. Es mag durchaus psychologische Determinanten geben, die den wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg begünstigen, bei Schumpeter sind das eben spezifische Eigenschaften des Unternehmers, allerdings lässt sich daraus keine gesamtwirtschaftliche Theorie ableiten.

Die Determinanten des Wirtschaftswachstums sind eines der heftigst umstrittenen Bereiche der Wirtschaftswissenschaften. Da lässt sich in Romanform wenig dazu sagen, wobei allerdings fraglich ist, ob Azevedo die Aussagen, die ihm dann nachträglich zugeschrieben wurden, überhaupt machen wollte. Es ist in der Tat so, dass das Milieu, in dem der Roman spielt, typisch brasilianisch ist. In anderen Regionen des Globus gibt es weder die im Roman beschriebenen Musikrichtungen und Tänze, noch die dort beschriebene Flora und Fauna und auch keine Kreolen und Mulatten. Richtig ist auch, dass der Roman in wirtschaftlich / sozialer Hinsicht die Verhältnisse in Brasilien im 19. Jahrhundert beschreibt. Große Kautschuk und Kaffeeplantagen, die letztlich von der Sklavenarbeit entscheidend profitierten und politisch dominierten, gab es nur im 19. Jahrhundert. Würde man den Roman aber auf eine Milieustudie des Brasiliens im 19. Jahrhundert reduzieren, würde er an Relevanz verlieren und im Übrigen spielen alle Romane dieser Welt in einem bestimmten Milieu. Folgte man dieser Argumentation, dass der Roman sich auf die spezifischen Bedingungen in Brasilien des 19. Jahrhunderts bezieht, dann wären alle Romane dieser Welt reine Milieustudien ohne allgemeine, globale Relevanz.

7. der Staat

Der Staat tritt im Roman auf als Polizei, Gericht, Gesetz, Militär wobei er auf allen Ebenen korrupt, gleichgültig, borniert und empathielos ist und in der Bevölkerung kaum Rückhalt findet, wenn man von Figuren wie Alexandre absieht, der sich als kleiner Polizist als Hüter der Ordnung sieht und stolz auf seine Uniform ist. Bedingt durch die Tatsache, dass die Verfassung von 1824, gültig bis 1889, das aktive Wahlrecht an das Einkommen band, berechtigt an der Wahl in der Provinz war nur, wer mindestens 200 Tausend Réis Jahreseinkommen hatte, für die Wahl zur Nationalversammlung bedurfte es 400 Tausend Réis und 800 Tausend Réis, um einen Senator wählen zu können, waren zur Wahl der Nationalversammlung etwa 1 Prozent der Bevölkerung berechtigt, die sich dann auch noch, höchstwahrscheinlich, aus Großgrundbesitzern zusammensetzten. Die im Roman beschriebene Szene, bei der sich verfeindete Gruppen sofort gegen die Staatsmacht verbünden, wenn diese für Ordnung sorgen will, ist also plausibel. Die Masse der Bevölkerung war von politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen, der Staat verteidigte nicht ihre Rechte und war von daher der Feind Nummer eins. Noch prächtiger als in Demokratien gedeihen in solchen Staaten Typen wie Botelho mit ihrer Bewunderung für alles Militärische. So Typen gibt es zwar auch in Demokratien, und sogar massenhaft, wie man sehen kann, wenn man sich bestimmte youtube videos anschaut, aber in Demokratien ist das Militär zumindest teilweise noch eingebunden in die Gesamtgesellschaft.

Botelho ist fasziniert von Uniformen, Fähnchen, Dschingtarassasa, militärischer Ordnung etc.. Der Roman beschreibt aber lediglich den zweifelsohne existierenden Sachverhalt, ohne ihn jedoch zu erklären, wobei er sich kaum erklären lässt. Vor einem Video wie diesem Ich hatt’ einen Kameraden, oder Tausend anderen, sitzt man verdutzt und schaut wie ein Schwein ins Uhrwerk. Wie viele Zeitgenossen, macht sich Botelho keine Gedanken darüber, welche Ziele erreicht werden sollen. Das Problem findet sich in diesem Statement geschildert.

"Ob ihr Einsatz nun richtig oder falsch ist, hat hier keine Bedeutung. Die Kameraden starben tapfer in der Ausübung ihres Dienstes. Ruhet in Frieden!" Der gesunde Menschenverstand würde einen ja eher lehren, dass die Frage, ob der Einsatz richtig oder falsch ist, die ganz zentrale Frage ist. Offensichtlich haben aber viele Zeitgenossen vor der Komplexität der realen Welt kapituliert. Zu erklären was hier letztlich psychologisch passiert, ist Kaffeesatz lesen für Fortgeschrittene. Unter Umständen neigen schwache Persönlichkeiten dazu, sich mit der Ordnung zu identifizieren, die sie für stabil und mächtig halten und deren Insignien anzubeten. Das gilt umso mehr, als man sich mit dieser Macht identifiziert und auf die Verlierer herabschaut, für deren Schicksal man keinerlei Empathie empfindet. Ein ähnlicher Typ ist Diederich Heßling in dem Roman der Untertan von Heinrich Mann.

8. Sexualität

Sexualität taucht an zwei Stellen des Romans als höchste Erfüllung auf, einmal bei Pombinha und Léonie und das andere Mal bei Jerônimo und Rita, wobei beide Male die Begleiterscheinungen kritisch sind. Meistens erscheint sie als disruptive Kraft, die zwar unbedingt das Leben erhält, aber alle Werteordnungen, Ziele, Schranken zerstört. Allein João Romão bleibt von ihrer Wirkung unbeeinflusst, bzw. fängt erst an zu phantasieren, als sein sozialer Status gesichert ist. Es ist zwar nie richtig klar, warum er eigentlich reich werden will, da sein Aufstieg auf totalem Verzicht auf alles beruht, aber im Gegensatz zu allen anderen Romanfiguren bleibt er seinem Weg ins Nirvana treu. Dazu passt, darin ähnelt er Miranda, dass er für andere Irritationen, z.B. Musik, keinerlei Organ besitzt. "Kultur" wird für ihn, dann empfindet er auch seine Ignoranz auf diesem Gebiet, erst relevant, als er in die Familie von Miranda, wo "Kultur" ein Statussymbol ist, einheiraten will. Während also für Rita Baiana Tanz und Musik ein spontaner, zweckfreier Ausdruck an Lebensfreude ist, ist sie für João Romão lediglich Instrument.

Sexualität zeigt ihren disruptiven Charakter auch bei der Überwindung der Klassengegensätze. Dona Estela, die Frau Mirandas, macht sich zwar was aus ihrer adeligen Abstammung, die im imperialen Brasilien unter Pedro II noch eine Rolle spielte, siehe unten, vernascht aber die Angestellten ihres Mannes und was ihr sonst noch unter die Finger kommt. Henrique, Sohn eines mit Miranda befreundeten Plantagenbesitzers, ist Kunde von Pombinha, die aus der Mietskaserne stammt.

9. Geeignet für die Schule?

Man kann über Sinn und Unsinn der Wertevermittlung an Schulen nachdenken. Man kann sich fragen, welche Werte dort vermittelt werden, vermittelt werden sollten und ob das gelingt. Man kann sich z.B. fragen, ob der Götz von Berlichingen wirklich die geeignete Lektüre für Neuntklässler ist und als Einführung in die Literatur geeignet. Praktisch die Hälfte aller Schulfächer, Geschichte, Ethik, Philosophie, Religion, Fremdsprachen, Deutsch, Politik intendieren irgendwie etwas wie die "ganzheitliche" Bildung, was immer da auch sein mag. In Anbetracht der Tatsache, dass das jedes Jahr Hunderte von Millionen von Euronen kostet, könnte man sich natürlich über die Ziel <=> Mittel Relation Gedanken machen. Da aber schon die Ziele unklar, geschweige denn empirisch belastbar messbar, sind, lässt sich auch gar nicht prüfen, ob die Mittel effizient eingesetzt werden. In der Gesellschaften Debatte läuft die Diskussion schlicht so: Vermittelt wird das Wahre, Schöne und Gute und man kann gar nicht genug dafür ausgeben. Der Autor hat jetzt keine Ahnung, was an brasilianischen Schulen abgeht. Wie O Cortiço dort unterrichtet wird, kann er nur den für Schüler aufbereiteten Interpretationen im Netz entnehmen, die zahlreich vorhanden sind, siehe oben. Tatsächlich ist aber die Bevölkerung Brasiliens ziemlich bunt mit zahlreichen Schattierungen in der Hautfarbe und unter Zuhilfenahme anderer äußerer Merkmale, etwa Haare, die wie die Blätter einer Annanas steil nach oben streben, nimmt Aluísio Azevedo dann Gruppierungen vor, Kreolen, Mestizen, Schwarze, Weiße etc.. denen er dann zum Teil gewisse charakterliche Merkmale zuschreibt. Unabhängig von der Frage, ob die Begriffe Kreole und Mestize einen Sinn ergeben, definiert sind sie ja nur für die erste Generation, bei der dritten und vierten werden diese Begriffe ja sinnlos und unabhängig von der Frage, ob die zugeschriebenen Merkmale empirisch belastbar dargestellt werden können, stellt sich die Frage, wie Lehrer mit einer Situation umgehen, bei der die im Buch beschriebenen Gruppen Teil der Schülerpopulation sind. Müsste der Autor Jugendliche / junge Erwachsene unterrichten, die charakterlich noch nicht gefestigt sind, würde er auf solche Zuschreibungen verzichten. Nachfragen bei Brasilianern ergaben aber, dass dies kein Problem ist.

Daraus schließt der Autor, so rein intuitiv, dass O Cortiço bei Schülern ähnlich beliebt ist, wie der Untertan bei deutschen Schülern oder der Don Quijote bei spanischen. Wahrscheinlich halten die sich bei Klausuren an Zusammenfassungen und Inhaltsangaben, so dass sie persönlich von dem Buch selbst gänzlich unberührt sind. (Noch besser ist die Divina Commedia. Über die hat der Autor dieser Zeilen mal ein Mammutwerk verfasst divina commedia. Das machen italienische Schüler DREI volle Jahre lang und das Ergebnis ist schlicht NULL.)

Die Beschreibungen intimer Beziehungen sind zum Teil recht drastisch, aber wahrscheinlich erschüttert das die Schüler im Zeitalter des Gangster Rap und ähnlichem nicht mehr. Offensichtlich kann der Roman auch Teil einer Prüfung zur Zulassung an einer Universität sein, siehe Você não leu, mas precisa saber: O Cortiço, de Aluísio Azevedo. Auf der Seite bekommt man dann die Sprüche erklärt, die man abnudeln muss, um durch diese Prüfung zu kommen. Das ist natürlich praktisch, dann braucht man den Roman gar nicht zu lesen. Allerdings fragt sich der Autor dieser Zeilen, ob derjenige, der das geschrieben hat, den Roman gelesen hat. Auf der Seite können sich die Leute auf das Fuvest vorbereiten, das wiederum Voraussetzung für die Vergabe eines Studienganges ist, siehe Fundação Universitária para o Vestibular.

10. Die Romanfiguren im Einzelnen

Die Handlung des Romans spielt sich komplett in der Mietskaserne ab. In der Mietskaserne treffen alle möglichen ethnischen Gruppen, soziale Stände, Berufe und Charaktere aufeinander, die im Grunde nur eine Gemeinsamkeit haben: Die Lebensverhältnisse sind prekär, wobei es allerdings nicht so ist, dass alle Opfer der äußeren Verhältnisse sind. Firmo z.B. ist kein Opfer, er ist Täter. Jerônimo ist kein Opfer der Verhältnisse, sein Scheitern hat höchst persönliche Gründe. João Romão entstammt im Übrigen derselben Gesellschaftsschicht, wie die Mieter seiner Mietskaserne, woraus deutlich wird, dass es, zumindest im Roman, Handlungsoptionen gab. Dass es Unterschiede in der sozialen Mobilität gibt, ist unbestritten, wohl in jedem Land dieser Erde in höherem und geringerem Maße, allerdings eignet sich der Roman eben gerade nicht zur Illustrierung dieser Tatsache. Entgegen der marxistischen Theorie ist in diesem Roman soziale Mobilität möglich. In dem Roman tauchen ein Unzahl an Figuren auf. Insofern sie Archetypen sind, also wesentliches zeigen, sollen sie kurz vorgestellt werden.

10.1 João Romão

Hauptfigur des Romans ist João Romão. Dieser arbeitete von seinem 13 bis zum 25 Lebensjahr als Angestellter eines Schankwirtes und zwar unter weit ärmlicheren Bedingungen, als später die Mieter seine Mietskaserne. Was davor war, ob er in Brasilien geboren wurde oder mit seinen Eltern nach Brasilien emigriert ist, wissen wir nicht, aber im Gegensatz zu Miranda, und Botelho, ebenfalls "reinrassige" Portugiesen, ist er, vor seinem Aufstieg, Teil des ethnisch bunt gemischten Prekariats, wohingegen Miranda und Botelho sich deutlich von diesem Prekariat abgrenzen, wobei bei Miranda diese Abgrenzung eine ökonomische Grundlage hat, während es sich bei Botelho um eine reine Phantasie handelt. João Romão kennt nur ein Ziel, dem er restlos alles unterordnet, nämlich Geld verdienen. Dafür ist ihm jedes Mittel recht. Diebstahl, Betrug und Ausbeutung. Im Gegensatz zu den Bewohnern der Mietskaserne, deren Verhalten stark von Emotionen geprägt ist, wobei die meisen von der Sorte sind, die auf Kollissionkurs sind, handelt João Romão durchgängig rational im Sinne der Lehrbuchdefinition der Mikroökonomie und wird in die Konflikte der Bewohner der Mietskaserne nicht mit hineingezogen. Teilweise gelingt es ihm sogar, aus diesen Konflikten einen wirtschaftlichen Vorteil zu ziehen. Auffallend ist, dass er, bis zur Verbindung mit der Familie Miranda, seinen zunehmenden Reichtum nicht mal zur Schau stellt und so seinen sozialen Aufstieg öffentlich macht.

Unabhängig von seinem Reichtum trägt er Holzschuhe ohne Socken, ein einfaches Hemd, eine einfache Hose und spart sich weiterhin jeden Réis vom Munde ab. Was später, als er eine Verbindung mit der Familie Miranda eingeht, an Bedeutung gewinnt, der soziale Aufstieg, ist in der Anfangsphase irrelevant. Auch hier unterscheidet er sich von seinen Mietern, die deutlich ärmer sind als er selbst. Während diese teilweise extremen Wert auf ihr Äußeres legen, ist João Romão, zumindest in den ersten zwei Dritteln des Romans, dieses völlig egal.

Erst im letzten Drittel will er sich von seinem obskuren Aufstieg lösen indem er Zumira, die Tochter von Miranda heiratet. Wie so oft steigen Selfmademen aus obskuren Verhältnissen auf, was umso mehr gilt, je mehr sich eine Wirtschaft im Umbruch befindet. Die erbärmlichen Bedingungen seines Aufstiegs will er später, einmal reich geworden, vergessen. Er schämt sich für die kleinen Betrügereien beim Verkauf, für den erbärmlichen, von Bertoleza betriebenen Imbiss, für alle Entbehrungen. Durch die Heirat mit Zumira dokumentiert er, für sich und für andere, dass er das alles hinter sich gelassen hat.

Davon abgesehen, hat João Romão überhaupt keine Eigenschaften und noch weniger irgendwelche Leidenschaften oder Interessen. Die Figur entwickelt sich auch nicht im Verlaufe des Romans. Sie tritt auf und bleibt dann so, wie sie von Anfang an war. Absolut skrupellos, unfähig zu irgendwelcher Empathie, völlig gefühlskalt allein fixiert auf ein Ziel, nämlich Reichtum anzuhäufen. Selbst der elementarste Trieb, der bei den Bewohnern der Mietskaserne eine erhebliche Rolle spielt und wo sich auch Miranda und Henrique Eskapaden erlauben, ist ihm abhanden gekommen. Er ist zwar mit Bertoleza zusammen, aber das spielt im Roman keine Rolle und hat keinerlei Einfluss auf seine Geschäftstüchtigkeit. Vermutlich soll das eine Aussage des Romans sein. Der geistig, moralisch und gefühlsmäßig flachste aller Protagonisten des Romans, so flach, dass er jenseits des Geld Verdienens weder Bedürfnisse hat noch auf anderen Gebieten irgendwelchen Ehrgeiz entwickelt, ist gleichzeitig der wirtschaftlich erfolgreichste, während der wesentlich komplexere und empfänglichere Jerônimo scheitert, bzw. einen radikalen Wandel in seiner Persönlichkeit durchmacht. Die These kann man "intuitiv" plausibel finden. Wo nichts ist, kann sich auch nichts entwickeln. Komplexere Persönlichkeiten befinden sich leichter in einem Spannungsfeld sich widersprechender Ziele, moralischen Vorstellungen, konfusen Gefühlen, weit ausgedehnten Interessen und nehmen soziale / gesellschaftliche Widersprüche eher war, sie sind dann eher mit komplexen Fragen konfrontiert auf die sie komplexere Antworten suchen. Damit nimmt dann die Fähigkeit, sich auf ein Ziel zu fokusieren naturgemäß ab.

Der Autor würde allerdings sagen, die Figur ist etwas holzschnittartig geraten und selbst wenn sie in dieser Reinform existieren würde, wäre sie als Kritik an der "kapitalistischen" bzw. marktwirtschaftlichen Ordnung, so heißt das Ding korrekt, nicht geeignet. Die marktwirtschaftliche Ordnung braucht keine Moral, denn der Wettbewerb ist ein Kontrollmechanismus, der weit stärker und härter kontrolliert, als jede Moral. In der veröffentlichten Meinung finden wir eine Tendenz, Phänomene wie Korruption, Vermögensumschichtungen durch Spekulationsgewinne, Ausschaltung von Wettbewerbern durch unlautere Mittel etc.. als Systemversagen zu bezeichnen. Das Systemversagen besteht dann aber lediglich darin, dass die marktwirtschaftliche Ordnung eingeschränkt wurde und kein Versagen der marktwirtschaftlichen Ordnung an sich. Ob Azevedo allerdings überhaupt die "kapitalistische" Ordnung kritisieren wollte, wie oft behauptet, wissen wir nicht. Des Weiteren ist davon auszugehen, dass er mit der wirtschaftswissenschaftlichen Fachliteratur seiner Zeit, Adam Smith, Jean Baptiste Say, John Stuart Mill etc. nicht vertraut war. Man sollte den Roman also als das nehmen, was er ist. Eine "intuitive", basierend auf persönlichen Erfahrungen, Beschreibung der Realität. João Romão erfährt eine Wandlung in seiner Persönlichkeit, als ihm klar wird, dass Geld allein für den sozialen Aufstieg nicht ausreicht. Das wird ihm bewusst, als Miranda Baron wird. Er eignet sich dann alle Insignien an, die den sozial höher Stehenden auszeichnen und setzt sich dann bewusst und auch äußerlich von den Bewohnern der Mietskaserne ab. Insignien des sozialen Aufstiegs ist aber nicht die brasilianisch / afrikanische Kultur, sondern der von Portugal definierte Kanon. Diesen versucht er sich nun durch fleißige, wenn auch erfolglose, Lektüre, durch Theater- und Konzertbesuche und das Aufsuchen der entsprechenden Cafés anzueignen. Man kann finden, dass hier ein komplexer Sachverhalt intuitiv erfasst wird. Ein Bildungskanon, das ergibt sich aus der Natur der Sache, ist nicht Ausdruck einer individuellen Entwicklung, sondern kanonisiert das, was eine bestimmte Schicht von ihren Mitgliedern fordert. Das kann sinnreich sein, wenn dadurch kulturelle Schöpfungen im Raum verbleiben und damit erfahrbar sind, auch wenn die Anhänger des Kanons ihm einen lediglich systemischen Wert zumessen, und schlecht, wenn im Bildungsystem ein obsoleter Kanon aufbewahrt wird.

Jerônimo geht den umgekehrten Weg. Im Gegensatz zu João Romão, der schlicht erfahrungsunfähig ist und für den Kultur erst dann relevant ist, wenn sie systemisch relevant ist, also den sozialen Aufstieg dokumentiert, ist Jerônimo, vor seiner Wandlung, Träger einer spezifischen Kultur, der portugiesischen eben. Die portugiesische violão, tatsächlich eher eine Guitarre, ersetzt er durch die brasilianische Guitarre, die portugiesische Musik verliert in dem Maße an Bedeutung, wie er in die brasilianisch / afrikanische Musik eindringt. Während sich also João Romão aus dem brasilianisch / afrikanischen Milieu löst und sich an der Kultur der wirtschaftlich dominierenden Schicht orientiert, wird Jerônimo von dieser angezogen wie Odysseus vom Gesang der Sirenen, ohne allerdings, wie der listenreiche Odysseus, an einen Pfahl gebunden zu sein, was diesen davor bewahrt, Schiffbruch zu erleiden. In dem Maße, wie er sich dem Rausch nachgibt, fliegt ihm sein bisheriges Leben um die Ohren. Auch das hat allerdings nur bedingt etwas mit Brasilien zu tun. Das ist sozusagen einer der ältesten Mythen der Menschheit, beschrieben in Tausenden von Romanen, Dramen, Gedichten und Liedern.

Wer will, kann in João Romão den Lehrbuchfall des homo oeconomicus, des allein auf Profitmaximierung fixierten Menschen, sehen, allerdings fehlt im Roman das zugehörige Pendant zum homo oeconomicus, der Wettbewerb. Nur im Wettbewerb entwickelt der homo oeconomicus eine gesellschaftlich sinnvolle Funktion. Des weiteren ist das Leben im Besonderen und die Wirtschaft im speziellen komplizierter als das mikroökomische Modell suggeriert und noch in der besten Marktwirtschaft gibt es viele Bereiche des sozialen Lebens, wo Skrupellosigkeit belohnt wird.

Obwohl er, sieht man von der Geschichte mit Bertoleza und Marciana ab, sich nicht viel zuschulden kommen lässt, außer eben seinen kleine Diebstählen und Betrügereien, ist der Typ João Romão, tritt er in Massen auf, brandgefährlich. Er mag wirtschaftlich positiv sein, baut Häuser für das einfache Volk, schafft Arbeitsplätze, treibt den Handel an. Das ändert aber nichts daran, dass er unsympathisch ist.

10.2. Jerônimo

Jerônimo ist der einzige "echte" Portugiese, das heißt er ist nicht in Brasilien geboren, sondern mit seiner Frau und seiner Tochter nach Brasilien emigriert. Als er zum ersten Mal auftritt, hat er sich aufgrund seiner überlegenen Arbeitsdisziplin vom Prekariat bereits gelöst, was ja der marxistischen These von der sozialen Undurchlässigkeit widerspricht. Im Gegenzug zu João Romão, der außer an Geld an nichts hängt, hat Jerônimo, wie auch seine Frau, Sehnsucht nach Portugal. Seine Idee war ursprünglich in Brasilien reich zu werden und dann nach Portugal zurückzukehren.

(Was im letzten Drittel des Romans auch João Romão will, allerdings nicht aus Sehnsucht, sondern um seinen Triumpf auszukosten.) In seiner ersten Zeit in Brasilien gehört er dem Prekariat an, aus dem er sich aber durch harte Arbeit lösen kann. Bei seinem Einzug in die Mietskaserne hält er sich noch getrennt von den anderen Bewohnern der Mietskaserne, wird aber aufgrund seines Auftretens und seiner moralischen Autorität von allen geachtet. Das Unglück nimmt seinen Lauf, als er Rita Baiana tanzen sieht. Mit Rita gewinnt er einen neuen Blick auf seine neue Heimat, die ihn nun derartig anzieht, dass er seine alte Heimat, und damit auch seine Frau Piedade, vergisst. Im Roman ist die brasilianische Kultur zwar einerseits die ungebändigte, spontane Lebensfreude, das Eintauchen aller Sinne in das pure Leben, aber eben nicht gerade das, was bei der disziplinierten Verfolgung rein ökonomischer Ziele hilfreich ist, zumal die Begleiterscheinungen Trunksucht, Gewalt, Verantwortungslosigkeit und Chaos sind. Was Jerônimo zu Beginn des Romans auszeichnet, Nüchternheit, Disziplin, Verantwortungslosigkeit, Professionaliät, Mäßigung geht vollkommen verloren.

Es ist unstrittig, dass Azevedo hier einen grundsätzlichen Unterschied zwischen der Kultur Portugals und der Kultur Brasiliens konstruiert, denn er verweist auf diesen Unterschied ziemlich dezidiert. Fragt sich nur noch, ob dieser Unterschied nicht grundsätzlicher Natur und überall zu finden ist. Der Autor braucht hier gar keine Beispiele zu liefern, der Leser findet selber ohne Probleme welche. Im Übrigen dürfte das, was in den Wirtschaftswissenschaften als rational bezeichnet wird, die Optimierung einer Situation im Hinblick auf den ökonomischen Erfolg, ziemlich irrational sein. Rational kann ein Verhalten nur dann sein, wenn auch das Ziel rational ist. Es ist sogar rationaler, ein rationales Ziel mit irrationalen, nicht zielführenden, Mitteln zu verfolgen, als ein irrationales Ziel mit rationalen, also zielführenden Mitteln. Von daher wankt die Menschheit etwas durch die Weltgeschichte. Das liegt in der Natur der Dinge.

Jerônimo ist, wie auch Rita Baiana, eine sympathischere Figur, auch wenn die beiden letztlich das umfassende Chaos produzieren und Jerônimo als Trinker endet. Jemand der von seinen Gefühlen übermannt wird, ist eben sympathischer als jemand wie João Romão, der gar keine hat. Dass Menschen mit einer unendlichen Sehnsucht aus dem Leben hinausgetrieben werden, soll vorkommen, als Alternative bietet sich aber auch nicht die Gefühllosigkeit an und der totale Stumpfsinn an. (Ein Thema, das uns im Übrigen bei Pombinha nochmal begegnet.)

10.3 Miranda

Das Haus von Miranda befindet sich direkt neben der Mietskaserne, was Azevedo ausnutzt, um die spontane, wenn auch immer wieder in extreme Wildheit und Zügellosigkeit ausartende Lebenslust der Bewohner der Mietskaserne der sterilen, heuchlerischen Fassade der bürgerlichen Gesetztheit entgegenzustellen. Im Hause Miranda ist mehr oder weniger alles reine Fassade. Die Ehe funktioniert tatsächlich nicht und ist in reinen Konventionen erstarrt, wobei Dona Estela sich anderweitig vergnügt, mit dem Ergebnis, dass Miranda wahrscheinlich gar nicht der Vater von Zulmira ist. Das Unternehmen Mirandas basiert auf der Mitgift seiner Frau, die er zwar hasst, von der er sich aber eben deswegen nicht trennen kann. Angedeutet wird, im letzten Abschnitt des Romans, dass die ganze Fassade auf der Ausbeutung der Sklaven beruht.

Miranda sieht keine weiteren Möglichkeiten, über größeren Reichtum weiter sozial aufzusteigen und verlegt sich daher auf die Erlangung eines Adelstitels, dem, so zumindest die Aussage des Romans, in Brasilien noch ein Prestige zukommt. (Wovon auch João Romão ausgeht, denn dieser will nicht nur Baron, sondern gleich Graf werden.)

Das Werk lässt sich schlecht zeitlich verorten. Eine Möglichkeit wäre, die Hintergründe der genannten Gebäude zu erforschen. Der Roman muss dann nachher geschrieben worden sein. Da Azevedo aber offensichtlich einen zeitkritischen Roman schreiben wollte, geht der Autor davon aus, dass er in einem Zeitraum ab 1850 spielt. Ungefähr kann man ihn auch einordnen über die Löhne. Wenn an den Wahlen zu den Provinzparlamenten nur die Leute teilnehmen durften, die, nach dem Gesetz von 1824, mehr als 200 Tausend Réis im Jahr verdienten und Bertoleza 240 Tausend Réis an ihren Herrn abgeben musste, dann muss die Inflation schon eine gewissen Wirkung getan haben, da man davon ausgehen kann, dass 200 Tausend eine Hausnummer ist. Nach 40 Jahren hätte sich das halbiert, was dann zwar immer noch viel ist, aber nicht völlig unrealistisch. Adelstitel wie Baron, den Miranda erhält, werden nach der Verfassung von 1824 von König vergeben, also in diesem Fall von Pedro II.

Art. 102. O Imperador é o Chefe do Poder Executivo, e o exercita pelos seus Ministros de Estado.
...
...
XI. Conceder Titulos, Honras, Ordens Militares, e Distincções em recompensa de serviços feitos ao Estado; dependendo as Mercês pecuniarias da approvação da Assembléa, quando não estiverem já designadas, e taxadas por Lei.
...
...

Die Vergabe von Titeln hängt also von Verdiensten und Gebühren ab, die wiederum vom Parlament festgelegt werden. Der Spaß war dann richtig teuer. 750 000 Réis für den Titel, 366 000 Réis für die Anfrage und 170 000 Réis für die Registrierung, macht dann etwa 1,3 Millionen Réis, also ungefähr den Betrag, den Bertoleza in fünf Jahren an ihren Herrn zu zahlen hatte. Das klärt aber nicht die entscheidende Frage, nämlich was man eigentlich davon hat. Der Titel Baron wurde ursprünglich überwiegend an Landbesitzer vergeben, vor allem an die Besitzer der Kaffeeplantagen, aber auch an Industrielle, Kaufleute, Banker, wenn diese eine gewisse Größe hatten. Hier und da liest man, dass in der Ernennungsurkunde eher die Verdienste für den Staat, serviços feitos ao Estado, hervorgehoben wurden, obwohl diese irrelevant waren, was wohl von der Tatsache ablenken sollte, dass die Titel schlicht gekauft wurden. Letztlich entscheidend war die Zahlungsfähigkeit. Sollte Pedro II jedoch die Verleihung einzeln geprüft haben und die Zahlung alleine nicht ausgereicht haben, so könnte durch den Titel nach außen dokumentiert werden, dass man ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft ist. Das gilt zumindest dann, wenn die Gruppe, der man imponieren will, die durch das imperiale System unter Pedro II gesetzten Werte teilt. (Man sollte das nicht verwechseln, mit den Adelstiteln, die noch aus Portugual stammten. Dona Estela, seine Ehefrau, hat so einen Titel geerbt, was aber nur bei portugiesischen Adelstiteln möglich war.) Wer wegen Majestätsbeleidigung angeklagt worden war, ein Handwerk ausübte oder jüdischen Glaubens war, konnte nicht Baron werden. Vermutlich hat es geholfen, wenn man dokumentieren konnte, dass man dem System freundlich gesinnt ist, wenn man von diesem irgendeine Vergünstigung gebraucht hat. Des weiteren waren wohl viele Geschäftspartner Mirandas Stützen des Systems, vor allem eben die Besitzer der Landgüter, mit denen er ja Handel trieb, und diese gaben wohl im Zweifelsfalle einer anderen Stütze des Systems den Vorzug. Wer jetzt Probleme damit hat, psychologisch nachzuvollziehen, warum jemand einen Haufen Geld für die Verlängerung des Namens auszugibt, der sollte bedenken, dass manche Leute ja auch versuchen, irgendwie an einen Adelstitel zu kommen und dafür richtig Geld hinlegen. Das kann man zwar immer noch nicht verstehen, aber es ist immerhin ein Fakt. Man muss auch nicht nachvollziehen können, warum der europäische Adel so gerne untereinander kuschelt, abe es ist ein Fakt.

Bei Miranda spielt noch eine Rolle, dass er finanziell von seiner Frau abhängt, da er deren Vermögen nicht aus dem Unternehmen ziehen kann und sie einen Adelstitel hat, bzw. adeliger Abstammung ist. Für sein Selbstbewußtsein ist es nun von entscheidender Bedeutung, dass er sich einen Adelstitel "aus eigener Kraft" erwirbt.

Ansonsten ähnelt er João Romão. Miranda hat, außer der Aufrechterhaltung der Fassade des großbürgerlichen Kaufmanns und der Seriosität, keine Interessen, Leidenschaften, Ziele, Bestrebungen und Ideale sowieso nicht. Womit wir dann schon bei der nächsten 1000 Dollar Frage wären. Soll der Typus Miranda interessant sein, dann muss er, zumindest wenn man das Anliegen des Naturalismus, eine Beschreibung der Gesellschaft zu liefern, teilt, typisch sein. Der Naturalismus stellt die Behauptung auf, dass sie Menschen ähnlich wie die Darwin Finken an ihre Umgebung anpassen. Dies dürfte, wie eingangs gesagt, kaum zutreffen, weil der Mensch seine Umgebung genauso formt wie jene ihn. Plausibler ist die These, dass sich Menschen systemkonform verhalten, das heißt auf die Anreize des Systems reagieren und das marktwirtschaftliche System in der Lehrbuchvariante honoriert eben nur den unmittelbaren wirtschaftlichen Erfolg und nicht den Beitrag zur Verwirklichung irgendwelcher Ideale oder abstrakter Ziele. Es gibt zwar auch in den Wirtschaftwissenschaften sowas wie öffentliche und meritorische Güter wie auch die Internalisierung externer Kosten, allerdings lehrt die Erfahrung, dass die Gewinnmaximierung dominiert. Auch in Teilsystemen des sozialen Lebens, wird der Einzelne auf Anreize reagieren. Ob hiermit ein abstraktes Ziel bzw. ein Ideal verwirklicht wird, dürfte dem einzelnen relativ egal sein. Hinzu kommt, dass der Einzelne in der Regel intellektuell gar nicht in der Lage ist, das dahinterstehende Ideal bzw., bescheidener, die angestrebte Ordnung, überhaupt zu erkennen.

Miranda reagiert also auf die Anreize, die ihm geboten werden und reflektiert nicht über die inneren Widersprüche des Systems, was insofern schlecht ist, als das System, an das er sich anpasst, nur wenige Jahre später, nämlich 1889 und mit dem Beginn der ersten Republik, aufgrund seiner inneren Widersprüche zusammenbricht. Auch hier irrt also der Naturalismus. Es mag sein, dass Menschen sich an Bedingungen anpassen, präziser wäre, man würde sagen auf deren Anreizsysteme reagieren, doch diese Systeme sind eben selten widerspruchsfrei und stabil und werden dann von Menschen verändert. Möglich, dass Azevedo eine Kritik am "Kapitalismus" üben wollte, also eigentlich, wenn man den richtigen Begriff wählt, an der marktwirtschaftlichen Ordnung, aber dieses System ist nur ein System unter vielen und was immer für Anreizsysteme ein System bietet, positive oder negative, wird es Leute geben, die auf diese Anreizsysteme reagieren. Im Roman gibt es nur eine Kraft, die nicht auf die Anreizsysteme des Systems reagiert und das ist die Sinnlichkeit. Sie steht dem Gewinnstreben eher im Weg, als dass es dieses fördert.

Die Grundthese der marktwirtschaftlichen Ordnung ist, dass sie zum höchsten Wohlstand für alle führt, wenn alle Profitmaximierer sind, wobei das Spiel auch in der Theorie nur funktioniert unter WETTBEWERBBEDINGUNGEN, die jeden Missbrauch durch objektive Kontrolle verhindert. Die Idee der Marktradikalen à la Milton Friedman ist dann, dass die Grundidee der marktwirtschaftlichen Ordnung auf möglichst viele Bereiche ausgedehnt werden sollte, z.B. auf den Bereich Bildung. Der Wettbewerb an sich kennt keine Ziele, außer eben die Optimierung ökonomischer Prozesse. Der reine Wettbewerb würde also auch mit Mirandas und João Romãos funktionieren. Der Wunsch Ideale durchzusetzen, bzw. moralisch zu handeln ist in diesem System weder vorgesehen, noch wird es benötigt, allerdings sanktioniert es Abwege. Dieses System funktioniert besser, als Systeme, die auf die moralische Integrität der Akteure setzen. Egal an wie vielen Wände man z.B. in Kuba die Bevölkerung auffordert, wie Che Guevara zu sein, der Produktivität hilft das nicht. Menschen reagieren auf konkrete Anreize und wollen keine abstrakten Ideal verwirklichen.

Das Problem ist, dass der reine Wettbewerb außer Effizienz keine Ziele kennt und die Realisierung von Idealen eher sanktioniert als fördert. Die kulturell und moralisch völlig ausgehölte Gesellschaft, ist letztlich tot. Die Ökonomie ist nicht mehr Instrument zur Durchsetzung von Zielen, sondern das Ziel selbst. Wer jetzt meint, dass mehr Kultur das Problem löst, der irrt, denn, wie im Roman dargestellt, ist auch die Kultur ein System von Anreizen. Ihr Wert ist nicht absolut, sondern hat systemische Funktion. Das Beispiel von Jerônimo und Rita zeigt auch, dass Authentizität, bei der das konkrete Erleben und nicht der instrumentelle Einsatz im Vordergrund steht, im System nicht vorgesehen ist. Insofern kann der Roman auch "marxistisch" interpretiert werden, allerdings nicht als Kritik an der "kapitalistischen" Ordnung. Wer das tut, der springt zu kurz. Letztlich geht es um Entfremdung. Der entfremdete Mensch macht sich selbst zum Instrument. Richtet sich so zu, dass er systemkonform auf die Anreize des jeweiligen Systems reagiert, was desto leichter gelingt, wenn das Individuum selbst weder Ziele, Werte noch Ideale hat. In Lehrbüchern zur Mikroökonomie klingt marktwirtschaftliche Ordnung ganz nett und durch die drastische Reduktion der Komplexität, lässt sie sich auch mathematisch beschreiben. Auf den Einwand, dass es in einer pluralistischen Gesellschaft nicht die Aufgabe der Wirtschaftswissenschaften sein kann, Ziele zu definieren, was zweifelsohne richtig ist, könnte man natürlich erwidern, dass damit die eigentliche Kernfrage unbeantwortet bleibt. Damit es mal konkreter fassbar wird: Typen wie Miranda und João Romão gehen für den sozialen Aufstieg über Leichen, was sie im Roman ja konkret tun. Der Tod Bertolezas wird in Kauf genommen. Wenn der Gesellschaft der Kompass fehlt, wie etwa in der Zeit 33 bis 45 in Deutschland, dann werden solche Typen zum Problem.

10.4 Botelho

Wie man Botelho einzuordnen hat, steht im Roman. Meistens wird er mit Parasit referenziert. Was die ökonomische Basis angeht, gehört er eigentlich dem Prekariat an, wird aber, aus unklaren Gründen, von Miranda ausgehalten. Ein Archetyp ist er also nicht, denn es dürfte nicht allzu viele Leute geben, die von irgendjemandem privat durchgefüttert werden. Archetypisch ist Botelho nur in seiner Bewunderung für alles Militärische, Fahnen, Uniformen, Märsche, etc.. Warum das so viele Leute fasziniert, siehe oben, ist ein Rätsel. Festhalten kann man nur, dass die Leute, die von Dschingdarassasa fasziniert sind, selten über den Zweck von Dschingdarassasa nachdenken, bzw. über die Eignung von Dschingdarassasa zur Durchsetzung eines Zieles. Botelho ist in gewissem Maße Miranda und João Romão in Reinform. Während letztere zumindest noch eine positive wirtschaftliche Entwicklung vorantreiben, ist er funktionslos. Er hat zwar dieselbe absolute Skruppelosigkeit, seine "Geschäfte" sind aber gesamtwirtschaftlich sinnlos, dass sie funktionieren, dass er sich also von João Romão bezahlen lässt, damit dieser dessen Heirat mit Zumela in die Wege leitet, zeigt lediglich, dass diese Gesellschaft innerlich ausgehöhlt ist und Beziehungen lediglich über Geld hergestellt werden. Botelho zeigt sozusagen in Reinform, was passiert, wenn Charaktere wie Miranda oder João Romão in einem System agieren, wo die reine Profitmaximierung keine gesellschaftlich sinnvolle Funktion mehr hat und Teilbereiche des sozialen Lebens können nicht über den Wettbewerb gesteuert werden. Die Frage ist, inwiefern Werte und komplexere Ziele vermittelt werden können, wenn für den zentralen Bereich, die Wirtschaft, eben diese Relevanz von Werten ex catedra, also z.B. in den Wirtschaftswissenschaften, negiert wird. Kultur und Werte sind, das kann man aus der Geschichte lernen, eine dünne Patina, die sehr leicht der Nutzenoptimierung geopfert wird.

10.5 Rita Baiana

Frauen sind in dem Roman deutlich positiver dargestellt als Männer. Im Gegensatz zu Jerônimo, der einerseits soziale Verpflichtungen hat und andererseits sozial aufsteigen will, was ihm aufgrund seiner Disziplin und Qualifikation auch gelingt, lebt Rita nur für den Moment, den aber intensiv. Jerônimo scheitert letztlich daran, dass er zu einem intensiven Erleben fähig ist und sich letztlich für die Intensität des Augenblicks und gegen die Vernunft entscheidet. Diesem Konflikt sind Charaktere wie Miranda oder João Romão gar nicht ausgesetzt, weil sie zu einem intensiven Erleben gar nicht fähig sind.

Rita ist sich sehr wohl bewusst, dass sie sich mit ihrer Beziehung zu Jerônimo auf eine abschüssige Bahn begibt und lehnt diese Verbindung auch anfangs massiv ab. Erst als sich die Ereignisse überstürzen, Firmo Jerônimo verletzt, Jerônimo ihr mitteilt, dass er Piedade auf jeden Fall verlassen wird, ihr Firmo zunehmend unheimlich wird und froh ist, als Jerônimo diesen tötet, willigt sie in die Verbindung ein, wobei sie auch dann noch Verständnis dafür gehabt hätte, wenn Jerônimo zu seiner Frau zurückkehrt. Dass das bürgerliche Leben Jerônimos auseinanderbricht, hätte sie nicht verhindern können, da dieser, unabhängig von ihrem Verhalten, das nicht mehr wollte. Wer will, kann in Rita Baiana, vom Typ her, auch sowas wie den Schöpfer oder das Medium der brasilianisch / afrikanischen Kultur sehen. Kultur ist immer Ausdruck eines bestimmen Lebensgefühls, das der Realität kritisch Ausdruck verleiht, diese emphatisch feiert, verdichtet, transzendiert, nachtrauert oder was auch immer. Wo aber ein solches gar nicht vorliegt, wie bei Miranda, João Romão oder Botelho, kann auch kein Lebensgefühl ausgedrückt werden, denn bei diesen steht alles unter dem Primat des wirtschaftlich / sozialen Aufstiegs und Kultur ist lediglich Instrument und Symbol der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht. Wo es nichts gibt, das ausgedrückt werden könnte, wird eben auch nichts ausgedrückt.

Von allen Frauen der Mietskaserne führt sie das ungebundenste und selbständigste Leben, auch wenn sie zunehmend Firmo als Bedrohung empfindet.

10.6 Léonie

Léonie enstammt ursprünglich demselben Millieu, wie die Bewohner der Mietskaserne, zapft aber die in Klassen eingeteilte Gesellschaft da ab, wo man sie abzapfen kann, nämlich als Edelprostituierte. Sie macht sich den disruptiven Charakter der Sexualität zu nutze. Sie könnte auf einem Bild von Otto Dix auftauchen und befindet sich im Zentrum des ganzen Gemengelage aus bürgerlicher Heuchelei, Gewalt, Langeweile, Ausbeutung, wobei sie sich in ihrem unmittelbaren Umfeld verantwortlich verhält.

10.7 Pombinha

Pombinha entstammt einer gut situierten Familie, ist aber nach dem Bankrott des väterlichen Unternehmens und dessen Selbstmord in der Mietskaserne gelandet, der sie aber qua Heirat wieder entfliehen kann. Allerdings ist ihr der Gatte zu dämlich, so dass sie unter Anleitung von Léonie ebenfalls zur Edelprostituierten wird. Psychologisch interessant ist hierbei ihre erste, mit Léonie, Erfahrung mit lesbischer Liebe. Obwohl dieses Erlebnis im ersten Moment erschütternd für sie ist, prägt es sie doch nachhaltig und die Intensität dieses Erlebnisses lässt sie die Belanglosigkeit ihres Gatten noch intensiver spüren. Der Roman ist also sehr viel mehr als eine Darstellung von Klassengegensätzen oder eine Illustrierung der vermeintlichen Prägung des Individuums durch das Millieu. Pombinha hättte ihr bürgerliches Leben durchaus weiterleben können, das war ihr aber schlicht zu langweilig. Kurz angedeutet wird, dass Henrique, Sohn eines Plantagenbesitzers und damit ein Profiteur der Sklavenhaltung, zu ihren Kunden zählt. Auch ihr luxuriöses Leben, wie auch das von Léonie, beruht also letztlich auf Ausbeutung.

10.8 Piedade

Auch wenn man überall das Gegenteil liest, ist der Roman keine soziologische Studie in Romanform, was ja auch nicht viel nützen würde. Wer eine soziologische Studie schreiben will, der soll das machen, aber in Prosa und mit empirisch belastbaren Daten. Allerdings gelingt es Azevedo mit wenigen Pinselstrichen eine unendliche Fülle an Charakteren zu zeichnen, die sich dann aber nicht in eine Theorie integrieren lassen, sondern erstmal nur Individuen sind. Man kann im Konflikt zwischen Rita und Piedade auch keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen einer brasilianischen Mentalität und einer portugiesischen Mentalität erkennen. Die Konstellation gibt es, mit Ausnahme extrem religiösen Gesellschaften, überall. Wir haben auf der einen Seite Piedade, die ihren Mann über alles liebt und sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen kann und ohne ihn auch nicht leben kann, und Rita, die eben nur für den Moment lebt. Ob Rita jetzt carpe diem betreibt ohne an die Zukunft zu denken, bzw. Piedade in die sichere, aber langweilige Zukunft fährt, liegt im Auge des Betrachters, bzw. der Art, wie es dargestellt und künstlerisch verarbeitet wird. In der Realität spielen natürlich die Begleitumstände eine Rolle. Je nach den Begleitumständen wird man das anders bewerten. (Zumindest wenn man nicht sehr klare, etwa religiös geprägte, Moralvorstellungen hat.)

10.9 Firmo

Firmo ist der Liebhaber von Rita mit beträchtlicher krimineller Energie und mehrfacher Mörder. Mit ihm lebt Rita zeitweise immer mal wieder zusammen. Er ähnelt Rita insofern, dass er sein Geld leichtfertig, mit Rita, verjuxt, wenn er mal welches hat. In seiner Jugend hat er sich politisch engagiert, er hat konkret, insinuiert wird, dass dies mit zweifelhaften Methoden geschah, Wählerstimmen akquiriert. Sein Engagement war aber weniger ideellen Gründen geschuldet. Sein Ziel war es, einen Posten zu ergattern, was ja überall als Motiv politischer Aktivitäten vorkommen soll, allerdings ist ihm das nie gelungen, weswegen er dann das Interesse an der Politik verloren hat.







Kontakt Datenschutzerklärung Impressum